Anstrengung vs. Ergebnis

Wer ein guter Musiker werden will, muss viel üben und sich anstrengen – klingt logisch.
Aber sind Aufwand und Leistung tatsächlich immer gleichzusetzen? Warum macht man dann manchmal trotz stundenlangen Übens keine Fortschritte mehr?

Rémi Gaché erläutert in diesem Workshop, wie man wirklich sinnvoll übt.

Einführung

Als der Film »Whiplash« veröffentlicht wurde, war jeder Musiker von dem Film verstört. Erstens, weil viele Aspekte des Films beunruhigend sind (ein Bandleader mit
brutalen Methoden, die Verwendung physischer und psychischer Gewalt, ein Musikstudent, der mit blutenden Händen übt, ein Autounfall).
Zweitens, weil sich viele Profis und Musikstudenten mit dem 19-jährigen Andrew Neiman identifizieren konnten, da sie ähnliche Erfahrungen mit
langen Übezeiten und großen Anstrengungen gemacht hatten.

Tatsächlich gibt es beim Lernen und Spielen eines Blechblasinstruments eine Kultur der Anstrengung.
Wenn man virtuos und mit perfekter Technik spielen will, muss man viele Stunden auf seinem Instrument üben. Einer meiner Lehrer hat es folgendermaßen ausgedrückt, wie viel Übezeit notwendig ist: »Übst du eine Stunde, bedeutet das Stillstand – übst du zwei Stunden, machst du einen Schritt zurück – übst du drei Stunden, machst du Fortschritte.« Warum man
mit zwei Stunden Übungszeit weniger Fortschritte macht als nur mit einer, habe ich bis heute nicht verstanden.

Die Hauptidee aber ist klar: Je mehr Übezeit, desto besser wird das Spielen. Charlie Parker erzählt in einem Interview mit Paul Desmond, dass er einige Jahre lang zwischen 11 und 15 Stunden Saxofon geübt hat.
Das ist kein Einzelfall! Jeder erfolgreiche Musiker im Jazz oder in der Klassik muss eine Periode seines Lebens viele Stunden am Tag üben.
Wenn der Student eines Blechblasinstruments auf Schwierigkeiten trifft, wird ihm oft von seinen Lehrern geraten, »länger zu üben« oder »sich mehr Mühe zu geben«. Um höhere Töne zu erreichen, lauter oder sogar schneller spielen zu können, wird empfohlen, »mehr Energie reinzustecken«, »mehr Luftmenge zu verwenden« oder auch »Bauchmuskeln anzuspannen«. Alle diese Ratschläge weisen auf erhöhte Anstrengungen hin.
In der Trompetenschule von Jean-Baptiste Arban sind Dur-Tonleitern von tief nach hoch mit einem Crescendo versehen (siehe Abbildung unten). Dasselbe gilt für die chromatischen
Übungen von Clarke. Man soll lauter spielen, wenn man höher spielt, und leiser, wenn man tiefer spielt. Hohe Töne werden implizit mit Anstrengung verknüpft, und wenn man sie erreichen
will, muss man sich mehr Mühe geben.
Ich habe das bei fast allen meiner Schüler – Kinder und Erwachsene – beobachtet: Wenn hohe Töne oder schwierige Stellen nicht funktionieren, ist die erste Reaktion, sich anzuspannen, mehr Luft und mehr Kraft aufzuwenden.
Aber ist das wirklich effizient?
Mir ist auch aufgefallen, dass Mädchen nie versuchen mit Kraft zu spielen. Mich würde interessieren, ob andere Lehrer ähnliche Beobachtungen gemacht haben und ob es Ursachen gibt, die diesen Gender-Unterschied erklären können.
Geduld und Ausdauer sind notwendige Qualitäten, um ein Instrument zu erlernen. Es ist aber schwer zu glauben, dass das instrumentale Niveau auch der Übezeit entspricht. Oder anders ausgedrückt: dass die Leistung proportional zur Anstrengung ist. Wie sollte sonst ein Amateur, der nur zweimal in der Woche 30 Minuten übt, ein Instrument erlernen können? Und warumwird umgekehrt bei manchen Musikstudenten, die drei bis sechs Stunden am Tag üben, keinFortschritt erkennbar?

Eine Sisyphusarbeit

»Students who achieve success do so frequently via perseverance, rather than efficient teaching strategies.«

(aus »More air, less air, what is air?«, J. Kruger, J. McLean, M. Kruger).


Beim Spielen eines Blechblasinstruments konzentriert man sich häufig auf das Üben, ohne jedoch konkrete Ziele festzulegen. Üblicherweise haben wir Lust zu üben, unser Instrument anzufassen
und es schön klingen zu lassen. Aber manchmal befinden wir uns in einer Sackgasse und erkennen keine Fortschritte mehr. Die erste Reaktion ist dann meist, die Anstrengungen zu verdoppeln, länger zu üben und es vielleicht mit Kraft zu versuchen, was jedoch nur Müdigkeit und Frustration bringt. Stunde um Stunde werden wir so zu einem Sisyphos, dieser mythologischen Figur, die immer wieder denselben Felsblock den Berg hinaufwälzen muss.
Wir üben nur des Übens wegen, wiederholen die gleichen Tonleitern, Flexibilität- oder Stoßübungen, und vergessen (oder ignorieren) dabei, was für ein Ziel wir eigentlich erreichen wollen.
Das Musizieren wird weniger bedeutsam und es kann passieren, dass wir auch viel weniger Motivation zum Üben haben.

Der Film »Whiplash« erzählt genau dieses Szenario und seine (extremen)
tragischen Konsequenzen. Es kann also sein, dass »länger zu üben«, »sich mehr Mühe zu geben«, nicht immer die richtige Empfehlung ist. Meiner Erfahrung als Musiker und Lehrer nach haben Klangqualität, hohe Töne, schnelle Stellen und Musikalität sehr wenig mit Anstrengung zu tun. Ich würde eher Gleichgewicht und Entspannung vorziehen. Aber kann man das Spielen eines Blechblasinstruments wirklich ohne Anstrengungen lernen? Ist Sisyphos zu seiner Aufgabe für ewig verdammt, oder könnte er, wie Daedalus, mit Kreativität und Einfallsreichtum
der Bestrafung entgehen?

Üben detailliert planen

Bei der Musik wird der Unterschied zwischen Anstrengung (Übezeit, Mühe während des Spiels) und Leistung (Fortschritte machen, etwas Konkretes lernen) oft nicht klar definiert. In einem Unternehmen ist diese Grenze klarer, vor allem weil die Verantwortung geteilt wird. Manager bestimmen die Ziele, planen ein klares Datum als Fristende, und die Mitarbeiter erfüllen die entsprechende Aufgabe. Wir als Musiker sollen gleichzeitig aber Manager und Mitarbeiter sein. Diese Doppelrolle ist selten erfolgreich. Oft wird hierbei der Mitarbeiter die Oberhand gewinnen,
das heißt wir konzentrieren uns auf das Üben und verlieren die Übersicht.
Sollte es nicht die Aufgabe des Lehrers sein, diese »Manager«-Rolle zu übernehmen? Theoretisch ja, aber ich habe leider noch nie mitbekommen, dass Lehrer einen detaillierten Lernprozess
planen. Und nicht jeder Musiker hat die Chance (oder das Geld), sich jede Woche mit einem Lehrer zu treffen. Es gibt dennoch verschiedene
Lösungswege, wie wir uns mehr auf das Ergebnis fokussieren und dabei die musikalische Praxis optimieren können.

Lösungsstrategien: Zuhören und genießen

Zunächst einmal sollte man sich hinsetzen und aufschreiben, welche Ziele man erreichen will.
Diese müssen sinnvoll und realistisch sein und möglicherweise auf ein konkretes Ergebnis hinarbeiten (zum Beispiel Konzert oder Aufnahme).
Anschließend kann eine Übungsroutine bestimmt werden, die in jeder Übesession wiederholt wird. Sollte diese Routine nicht zu häufig geändert werden, muss man Fortschritte erkennen können. Beim Musizieren selbst ist es schwierig, das Ergebnis zu beurteilen, da wir eine andere Wahrnehmung haben. Die Qualität von heutigen Smartphones ist aber ausreichend, um die Musikalität,
Genauigkeit und Stimmung zu beurteilen.
Vor allem ist das eine sehr gute Vorbereitung für eine Studio-Aufnahme. Wenn man sich selbst zuhört, kann man besser die Aspekte identifizieren, die verbessert werden können.
Es mag widersprüchlich klingen, aber nur wenige Profi-Musiker hören selbst Musik. Wenn man den ganzen Tag geübt, geprobt beziehungsweise im Konzert gespielt hat, braucht man endlich Ruhe. Musik zu hören ist aber notwendig, um seine eigene Musikalität zu ernähren, seine Neugierde wach zu halten und neue Musikstile zu entdecken. Es ist deshalb wichtig, Musik zu
hören, ohne die Spielqualität zu beurteilen, ohne zu analysieren – sondern einfach um zu genießen.
Und das Genießen ist vielleicht die wichtigste Dimension, die sehr oft in unserer musikalischen Praxis fehlt. Musizieren sollte ein gemeinsames Vergnügen sein, das wir mit dem Publikum teilen können.

Fazit

Um ein Instrument zu erlernen, muss man sich Zeit nehmen und sich bemühen. Anstrengungen sind aber nur ein Teil des Musizierens und können auch schädigende Wirkungen auf unsere
musikalische Praxis haben. Wir sollten immer unsere Ziele im Blick behalten und infrage stellen können, warum wir Musik machen und was es
uns bedeutet.
Noch spannende und musikalische Fortschritte wünsche ich euch.